Der "schönste Bahnhof"
Aus der Abteilung Lug und Trug
Der "schönste Bahnhof"
Jedes Jahr "wählen" KundInnen den "schönsten Bahnhof". ÖBB und Verkehrsclub Österreich (VCÖ) verlautbaren dann, wie schön "schön" ist. Zufällig bekommt der VCÖ zahlreiche Inserate von den ÖBB und ebenso zufällig ist der "schönste" Bahnhof" immer jener, der gerade von einem Bahnhof in eine Shopping Mall umgewandelt wurde. Der jüngste "schönste Bahnhof", nach Linz und Graz, ist der Westbahnhof.
Selbstverständlich hat der "schönste" Bahnhof" niemals eine Gepäckschalter, weil der wurde in Geschäfte umgewandelt, wie überhaupt jeder Zentimeter verschachert wurde und für die eigentliche Funktion als Bahnhof nur Restflächen übrigbleiben.
Fahrkartenautomaten sind rar, am Westbahnhof sind es acht Stück im Erdgeschoss, von denen immer mindestens einer außer Betrieb ist. Im ersten Stock, d.h. auf Bahnsteigniveau, gibt es keinen einzigen, obwohl dieses von der Straße direkt begehbar ist. Dafür gibt es mindestens doppelt so viele Überwachungskameras, nämlich pro Stockwerk.
Bereits von Außen ist erkennbar, dass dieser Bahnhof nur untergeordnete Verkehrsfunktionen erfüllt. Bei der Unmenge an Firmenwerbung an der Fassade fällt die ÖBB gar nicht mehr auf.
Mittendrin herrscht ein strenges von Security überwachtes Regime, damit Shopper nicht belästigt werden. Dadurch wird nicht genehmes Fußvolk, das sich breitmachen könnte, abgeschreckt. In der "Hausordnung" genannten Reglementierung wird unerwünschtes Tun aller Art präventiv abgewehrt. Selbstverständlich gehört dazu auch, dass man seine Mitmenschen nicht mit Gerüchen belästigt. Das ruft man sich gerne in Erinnerung, wenn man mitten im Gebäude steht und einem Schwaden von Junk Food aller Welt um die Nase wehen. Wenn jemand bezahlt, dann dürfen auch ein Dutzend oder mehr Geruchserzeuger die Halle verstinken, ansonsten reicht eine Bierfahne zum sicherheitstechnischen Eklat mit anschließender Entfernung aus dem Gebäude.
Am Bahnsteig wird es erstmals wieder menschlich
Irgendwann hat man kaputte Automaten, überfüllte Fahrkartenschalter, Gestankschwaden und die aufdringliche Lärmkulisse aus Dutzenden Geschäften hinter sich und erreicht den Bahnsteig. Hier wird es dann besonders "schön", nämlich zum ersten Mal seit Betreten des Gebäudes wieder menschlich.
Hier halten sich Reisende (!) auf, besteigen Züge oder tauschen Abschiedsküsse aus. Das alles findet auf der Restfläche statt. Diese ist abgerammelt wie eh und je, die technischen Einrichtungen sind auf dem Stand der frühen 1950er Jahre und ab und zu sieht man auch einen Schaffner.
Ein sehr museales Ambiente, richtig grindig. So muß ein Bahnhof früher ausgesehen haben, als er noch nicht "schön" war. Es ist anzunehmen, dass das die Auflage für den Denkmalschutz war: Egal was ihr mit dem Gebäude anstellt, aber die Bahnsteige bleiben, wie sie sind.
Ein richtig "schönes" Vorzeigeprojekt.