Die Kannibalisierung des Fernverkehrs

12.05.2014 19:30

Die Fahrgastzahlen im Personenfernverkehr stagnieren.

 

Trotzdem werden die Züge immer voller.

 

Kannibalisierung

 

Die Lösung des Rätsels ist eine einfache: Weil die ÖBB im Nahverkehr zu wenige Waggons haben, wird der Fernverkehr – wie es in der Wirtschaftssprache so schön heisst - „kannibalisiert“. Der Begriff drückt aus, dass zur Aufrechterhaltung eines Betriebsteils ein anderer ausgenommen wird, um den Betrieb aufrecht zu erhalten.

In der Bilanz machen die ÖBB natürlich keine Angaben darüber, wie sich der Stand des Rollmaterials im Personenverkehr entwickelt. Aber vor Ort, am Bahnhof, ist es sehr gut ersichtlich.

Vom Westbahnhof fahren am Nachmittag stündlich Züge im Regionalverkehr Nach St. Valentin, die vollständig mit Waggons des Fernverkehrs gefahren werden. Diese Waggons fehlen natürlich im Fernverkehr. Darum sind die Fernverkehrszüge auch so überfüllt, dass sie gelegentlich von der Polizei geräumt werden.

Fernverkehrszüge werden zu Nahverkehrszügen umgewidmet, indem sie Regionalverbindungen durch zusätzliche Aufenthalte verstärken. Chronisch ist das Problem auf den Strecken zwischen Wien und St.Pölten, Wien und Wr. Neustadt, sowie in Tirol im Inntal zwischen Kufstein und Innsbruck. Dort sind die Fernverkehrszüge mit PendlerInnen überfüllt. Die Verkürzung von Fernverkehrsverbindungen tut sein übriges, etwa wenn frühere Züge zwischen Wien und Salzburg plötzlich nur mehr von Wien nach Wels fahren. Dann sind die Salzburg-Züge natürlich noch voller.

 

Kein Einzelfall

 

Auch auf der Regionalstrecke von Wien nach Fehring (Oststeiermark), eine Nebenstrecke die nicht einmal elektrifiziert ist, tuckert die ÖBB mit einer Diesellok, aber mit Schnellzugwaggons drei Stunden lang dahin.

 

Außerdem bestreiten ausländische Bahnen Teile des Binnenverkehrs.

 

So fährt die tschechische Bahn schon seit mehreren Jahren von Prag nicht nur bis Wien, sondern bis Wr. Neustadt, damit die ÖBB den Fernverkehr zwischen Wien und Wr. Neustadt überhaupt noch einhalten können.

 

Der transnationale Fernverkehr

 

ist überhaupt ein Trauerspiel. Zur Erinnerung: Bis Mitte der 1990er Jahre gab es zwei Nacht- und zwei Tagzüge nach Paris, heute keine einzigen mehr. Einer der beiden Nachtzüge fuhr sogar bis nach Bukarest.

 

Wien nach Amsterdam und nach Brüssel bzw. Oostende war tags und nachts kein Problem. Wien – Berlin betreibt die ÖBB ebenfalls nicht mehr. Und Italien ist ferner denn je. Von früher üblichen Zügen bis Griechenland gar nicht zu reden. Und würden die russischen Bahnen nicht ein paar Waggons aus Moskau nach Wien schicken, dann gäbe es auch diese Verbindung schon lange nicht mehr.

 

Sinnlose Werbung

 

Aber Hauptsache die Verkehrsministerin bewirbt in Inseraten der ÖBB-Infrastruktur sündteure Tunnelbauten damit, dass sich die Fahrzeit von Wien nach Venedig drastisch verkürzen wird. Dazu müßte es aber erst mal überhaupt einen Zug geben. Denn zu dem Zeitpunkt, als diese Inserate erschienen, fuhr kein einziger Zug von Wien nach Venedig. Stattdessen betreibt die ÖBB eine Buslinie von Kärnten nach Venedig, die parallel zur zwischen Venedig bis Tarvisio (Grenze) topmodern ausgebauten Bahnstrecke über die Autobahn gurkt. Erst heuer wird „auf vielfachen Wunsch“, so die Pressestelle der ÖBB, wieder ein Zug angeboten. Ansonsten fährt weiterhin der Bus. Zum Vergleich: In der Donaumonarchie gab es von Wien nach Triest acht direkte Tagzüge.